In den Gängen brodelt es:
Eine Ethnographic Novel

 

Autor*innen: Belacchi Livi Mara, Bosbach Paula Ida, Brandl Tara, Höfler Anika, Kruppa Daniel, Ladurner Erik, Markom Christa, Patzak Antonia, Pavicsits Maja, Puntaier Leonie

Prolog: Die Feder als Werkzeug zwischen Fakten und Fiktion

Wir, die stillen Beobachter*innen, haben uns für eine literarische Form entschieden, die Elemente der Ethnographie mit der Fiktion verwebt. Die Feder war unser Werkzeug, unsere Notizbücher die Leinwand, auf der wir die Nuancen des Alltags einfingen. In den Fluren dieses Instituts, zwischen der Kaffeemaschine und dem abgenutzten Linoleum, entfaltete sich unser Experiment.

Die Verhaltensweisen, die Interaktionen, die sozialen Dynamiken – all das haben wir beobachtet und beschrieben. Unser Fokus lag auf den Konventionen und Normalitäten, die dieses Mikrokosmos prägen. Wir waren keine distanzierten Forscher*innen, sondern Teilnehmende. Manchmal beobachtend, manchmal eingetaucht, um ein tiefes Verständnis für die Wesenszüge dieses Geschehens zu entwickeln.

Authentizität war unser Kompass. Wir haben recherchiert, Reflexionen angestellt und uns den eigenen Eindrücken gestellt. Denn eine “Ethnographic Novel” ist mehr als bloße Beschreibung – sie ist ein Spiegel, der die Realität der untersuchten Gruppe reflektiert. Und diese Realität ist vielschichtig, manchmal verschleiert, manchmal greifbar.

Die Charaktere, die in unseren Seiten erwachen, sind ein Mosaik aus Fakt und Fiktion. Ihre Gespräche mögen erfunden sein, aber ihre Essenz ist authentisch. Wir haben ihre Denk- und Handlungsweisen respektiert, ihre Unsicherheiten und Triumphe eingefangen. Denn Empathie ist der Kitt, der unsere Novelle zusammenhält.

Es gibt keine festen Regeln für diese Kunstform. Die Autor*innen wählten ihre eigenen Pfade. Doch letztendlich ging es uns als Kollektiv um das Dokumentieren, das Ausprobieren, das Reflektieren und das Verarbeiten. Wir waren die Chronist*innen des Unsichtbaren, die Geschichtenerzähler*innen des Alltags. Im Flüstern dieses Instituts fanden wir unsere Inspiration.

Von grauen Gängen zu lebendigen Debatten

Der Ort, an dem seit 1962 das NIG steht, war ursprünglich nicht für Menschen vorgesehen. Bücher und Artefakte sollten hier stumm in ihren Regalen lagern. Auch wenn die architektonischen Pläne geändert wurden, ist diese ursprüngliche Absicht im NIG bis heute spürbar. Anstelle einer inspirierenden Umgebung dominieren klobige Fassaden. Statt ästhetischer Gestaltung herrscht eine triste Farbwahl vor. Das Gebäude scheint ein einziger grauer Gang zu sein, der einem Krankenhaus gleicht. Jeglicher Hauch von Neugier und Begeisterung wird im Keim erstickt. Um es mit den Worten von Marc Augé (1995) zu sagen: Das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie gleicht in Vielem einem Nicht-Ort. Vor allem dem Gang, der den einzigen offenen Raum der Begegnung darstellt, fehlt es an Identität. So vieles ist austauschbar und entfremdet. Die weißen Wände, blauen Türen und das sterile Licht der Leuchtstoffröhren ersticken nur zu oft die Lebensfreude jener, die den Gang hinab schreiten. Es ist ein künstlicher Ort des Durchgangs, modern und jeglicher Charakterisierung beraubt. Dieser Ort, an dem Studierende "die besten Jahre ihres Lebens" verbringen sollen, wird seinem Zweck nicht gerecht.
Dennoch: In den schlichten Seminarräumen des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie brodelt es. Die Studierenden, ein bunt gemischtes Kollektiv mit unterschiedlichen Interessen, haben sich versammelt, um über die Lehrinhalte zu diskutieren. Doch es ist keine gewöhnliche Diskussion – es ist ein Aufbegehren, ein Infragestellen der etablierten Normen und Perspektiven.

Anna, eine aufstrebende Masterstudentin, sitzt mit verschränkten Armen da. Ihre Stirn ist in Falten gelegt, und ihre Augen funkeln vor Entschlossenheit. “Wir können nicht länger schweigen”, sagt sie mit fester Stimme. “Die rassistischen und kolonialen Aspekte in so manchem Unterricht sind unerträglich. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Stimmen erheben. Dass wir uns erheben!”

Lea, eine Bachelorstudentin nickt zustimmend. “Aber wir müssen vorsichtig sein”, warnt sie. “Nicht jede*r wird unsere Kritik akzeptieren. Einige werden uns als Störenfriede betrachten.”

Elliot, ein*e engagierte*r Aktivist*in, springt auf. “Wir haben bereits so viel antirassistische Arbeit geleistet”, sagt dey, “aber es reicht nicht aus. Wir müssen das gesamte historische Wissen der Anthropologie komplett neu bewerten. Es ist an der Zeit, dass wir die Wahrheit ans Licht bringen!”

Luisa, eine junge Bachelorstudentin im zweiten Semester, hört aufmerksam zu und nimmt jedes Wort ihrer Kommiliton*innen in sich auf. Trotz ihrer Begeisterung bleibt sie still, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Die Aufregung in ihr ist jedoch spürbar. Was sie hört, ist völlig neu für sie, und dennoch fühlt es sich überraschend vertraut an. Es ergibt einfach Sinn, und obwohl sie es bisher nicht gewusst hatte, hatte sie sich schon sehr lange danach gesehnt, diese Worte zu hören.

Die Studierenden diskutieren leidenschaftlich. Einige argumentieren für eine radikale Umgestaltung des Lehrplans, während andere darauf bestehen, dass historisches Wissen unverzichtbar sei. Der Raum pulsiert vor Energie, Ideen und Widerstand. Und so beginnt der Prozess der Veränderung. Die Studierenden formieren sich, organisieren Treffen, schreiben Petitionen und tragen ihre Anliegen vor. Die Lehrinhalte alter, weißer Männer stellen sie in Frage, neue  kritische Perspektiven fordern sie ein. Das Fach selbst soll zu einem Ort der kritischen Reflexion und der Verantwortung werden.  Es wird sich zeigen, ob dieser Widerstand Früchte tragen wird. Aber eines ist sicher: Der Beginn einer anderen Perspektive auf die Anthropologie wird bereits in Gang gesetzt. Es ist Zeit für eine Ethnografie des Faches selbst, die den schonungslosen Blick in die Vergangenheit nicht scheut und die Zukunft mitgestaltet.

So ist es schlussendlich die Methode der teilnehmenden Beobachtung, die den Blick der Studierenden verändert. Sie tauchen tief in die Welt der Studierenden und Lehrenden ein, nicht nur als passive Zuhörer*innen, sondern als aktive Teilnehmer*innen. Sie nehmen an Vorlesungen teil, sitzen in den Seminaren und beobachten die Gesten, die Blicke, die subtilen Zeichen.

Anna setzt sich in die erste Reihe der Lehrveranstaltungen. Sie notiert nicht nur die Worte des Professors, sondern auch seine Körpersprache, seine Betonungen. Sie beobachtet akribisch, wie mit Rassismus in Seminaren umgegangen wird. Dafür verfremdet sie ihren Blick, indem sie sich vorstellt, sie sei eine Außenstehende, die diese Szene zum ersten Mal sieht. Was würde sie denken? Welche Fragen würde die Außenstehende stellen? Wie würde sich eine Person fühlen, die aus einem kolonisierten Land kommt und hier unterrichtet wird? Und gibt es nicht auch eine Anthropologie der Emotionen?

Lea ist zuerst sehr unsicher, was sie erforschen will. Zu viele Themen schwirren in ihrem Kopf herum, wie lästige Gelsen, die sich nicht einfangen lassen. Sie beginnt damit, in Vorlesungen ihre Augen offen zu halten. Und schließlich stolpert sie über einen Fall, der ihr Interesse weckt. Sie taucht in die Welt des Aktivismus ein und dokumentiert, wie die Anthropologie schon jetzt an ihrem Institut Schritt für Schritt dekolonialisiert wird.

Elliot ist Teil der Studierendenvertretung und nimmt dadurch regelmäßig an Fakultätssitzungen teil. Dey beobachtet nicht nur die offiziellen Diskussionen, sondern auch die informellen Gespräche in den Pausen. Dabei verfremdet Elliot den Blick, indem dey sich vorstellt, ein*e Künstler*in zu sein, die*der die Farben und Formen der Interaktionen einfängt. Was würde dey malen? Welche Nuancen würde dey betonen?

Luisa erweitert als stille Zuhörerin kontinuierlich ihren Horizont und beginnt, die rassistische Realität im Austausch mit ihren Studierenden zu reflektieren. Dabei lernt sie, sich selbst und ihre eigenen Ansichten zunehmend kritisch zu hinterfragen.

Während ihrer Feldforschung teilen die Studierenden ihre Beobachtungen und diskutieren ihre Erkenntnisse. Sie erkennen, dass die Lehrenden nicht nur Wissensvermittler*innen sind, sondern auch Menschen mit eigenen Ängsten, Unsicherheiten und Überzeugungen. Sie beginnen, die Lehrinhalte aus einer neuen Perspektive zu betrachten – nicht als absolute Wahrheiten, sondern als Konstrukte, die hinterfragt werden können. Und so verändert sich nicht nur das Fach, sondern auch die Studierenden selbst. Sie werden zu Ethnograph*innen ihrer eigenen Bildungsinstitution, zu Forscher*innen, die nicht nur Wissen aufnehmen, sondern es auch kritisch hinterfragen.

Unbequeme Fragen: Anna und der akademische Kampf um Anerkennung

In verschwitzter Eile huschte Anna durch die belebten Straßen Wiens. Die Morgenluft war von Hektik erfüllt, während sie versuchte, rechtzeitig zu ihrem Seminar zu gelangen. Die Zeit schien ihr davonzulaufen, und sie konnte nicht anders, als sich zu ärgern über die Unzuverlässigkeit der Öffis. Die Wiener Linien hatten beschlossen, zwei Straßenbahnlinien einzustellen, ohne Ersatzverkehr anzubieten. Ein Ärgernis, das Anna zu spüren bekam.

Mit ihrem üblichen "noise-canceling" Kopfhörer bewaffnet, schlängelte sie sich durch die Menschenmenge, die Straßenbahnstationen und Gehsteige. Die grell gekleideten Anwerber*innen mit orangefarbenen Windjacken und iPads versuchten sie zu überreden, sich für Sommerjobs oder Spendenabonnements zu interessieren. Doch Anna war zu sehr in Eile, um sich auf ihre Angebote einzulassen.

Sie eilte über die Straße zu, obwohl die Ampel bereits Rot aufleuchtete. Ein hupendes Auto ließ sie aufschrecken, aber sie setzte ihren Weg fort, getrieben von dem Drang, endlich anzukommen. Trotz ihrer Verspätung konnte sie es nicht lassen, sich einen gratis Kaffee von anderen Werbenden vor dem Institutsgebäude zu schnappen. Dann war es jedoch an der Zeit, sich der Realität zu stellen - sie war zwanzig Minuten zu spät - die akademische Viertelstunde war abgelaufen.

Mit einem Seufzen öffnete sie die schwere Eingangstür und betrat das Gebäude, das ihr so vertraut und doch so fremd erschien. Die Frage nach dem Aufzug oder den Treppen plagte sie wie immer, und sie entschied sich - wie jeden Tag -  schlussendlich für den Aufzug. Ihre Gedanken schweiften zu dem Slogan an der Marmorwand: "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei." Doch für Anna schien diese Freiheit oft eher eine Illusion zu sein, eingeschränkt durch rigide Lehrpläne und fehlende Vielfalt.

Im Aufzug angekommen, begann sie, über den grauenvollen Text nachzudenken, den sie für die heutige Einheit des bevorstehenden Seminars, das eigentlich schon im vollen Gange war, vorbereiten musste. Der Text über die "Sammler" im 18. und 19. Jahrhundert ließ sie frustriert zurück, da es das Sammeln nicht als Synonym für Raub und Plünderung kontextualisierte. Entschlossen, das Thema im Seminar anzusprechen, betrat Anna den Gang, bereit für die Reaktionen und Erklärungen ihres Professors.

Ihr Weg führte sie zum Seminarraum, wo sie klopfte, sich demütig entschuldigte und sich einen Platz im Raum suchte, bereit, sich in die akademische Debatte zu stürzen. Das Seminar hatte bereits begonnen und der Professor hatte seinen Monolog gestartet. Er tauchte in die historische Grundlage der "Sammeltätigkeit" in der Anthropologie ein. Das Wort "Kolonialismus" nahm er kaum in den Mund. Stattdessen jonglierte er mit Jahreszahlen und Jahrhunderten. Annas Gedanken wirbelten um die vermeintlich positiven Begriffe aus dem Text, den sie gelesen hatte: Sammlungen, Erkundungsreisen, Reisebeschreibungen, … Sie bemühte sich, ruhig zu sitzen und zuzuhören, aber ihre Gedanken wanderten. Wie schon in der Schulzeit, griff sie zu ihrem Skizzenblock, den sie immer bei sich trug. Er gab ihr die Möglichkeit, sich besser zu konzentrieren, obwohl sie befürchtete, dass viele, besonders Lehrende, ihr Kritzeln als Unaufmerksamkeit deuten könnten. Seit ihrer ADHS-Diagnose verstand sie besser, dass das Zeichnen eine wichtige Coping-Strategie für sie war, um ihre Konzentrationsprobleme zu bewältigen. Und sie wusste, dass es auch vielen anderen so ging.

Sie begann, eine Zeichnung zu skizzieren. Eine Schwarze Person entstand auf dem Papier, und dabei fragte sie sich: Wie fühlen sich wohl BIPoC in diesem Seminar? Und vor allem: Wie schaffen sie es, dieses Studium durchzuhalten? Sie selbst kannte das Gefühl, an der Universität diskriminiert zu werden. Anders zu sein und dadurch anders behandelt zu werden, oder nicht wie die „Normalen“ teilhaben zu können. Die Universität war nach wie vor kaum barrierefrei für neurodivergente Menschen, die wie sie Symptome von ADHS oder Autismus zeigten. Die Institution blieb in Strukturen verhaftet, die vor allem weiße, neurotypische Akademikerkinder bevorzugten.

Doch heute erfüllte das Zeichnen nicht seinen gewohnten Effekt. Zu viele Gedanken rasten durch Annas Kopf. War es überhaupt in Ordnung, diese Zeichnung anzufertigen, oder reproduzierte sie gerade visuelle Stereotypen von BIPoC? Und ist es überhaupt möglich, die Diversität und Mannigfaltigkeit von People of Color in einer Zeichnung einzufangen? Diese Fragen nagten an ihr, während ihre Hand weiterhin die Linien zog.

Als der Professor begann, über die Aufklärung und das Entstehen der Vorstellung des "Mensch-Seins" zu sprechen, kehrte ihre Aufmerksamkeit langsam zurück. Sie fragte sich, ob sie alle denselben Text gelesen hatten.

Anna ließ den Stift sinken und sah sich im Raum um. Die Gesichter ihrer Kommiliton*innen waren konzentriert, aber wie viele von ihnen stimmten mit dem Professor überein? Und wie viele von ihnen kämpften wie sie damit, sich in einer Umgebung zurechtzufinden, die nicht für sie gemacht war? Sie dachte an die vielen Geschichten von Diskriminierung und Ausschluss, die sie von Mitstudierenden gehört hatte. Ihr Blick fiel zurück auf ihre Skizze. Die Augen der gezeichneten Person schienen sie direkt anzusehen, als ob sie Antworten verlangten.

Nach etwa 45 Minuten wurde den Studierenden endlich die Gelegenheit gegeben, ihre Gedanken einzubringen. Doch der Professor lenkte die Diskussion in eine bestimmte Richtung: "Die Professionalisierung der Anthropologie und ihre frühen Errungenschaften". Der Fokus lag auf den vielen weißen und männlichen Wissenschaftlern, die durch ihre "Sammeltätigkeit" dazu beigetragen hatten, die anthropologische Disziplin zu etablieren. Anna fasste ihren Mut zusammen, um weiterhin handlungsfähig zu bleiben, und streckte den Arm aus. Der Professor sah ihre Hand, zögerte einen Moment, bevor er Anna in die Diskussion einbezog. Anna war sich bewusst, dass sie im Institut als jemand bekannt war, die den Mund aufmachte, wenn sie Ungerechtigkeit wahrnahm. Diese Eigenschaft kam jedoch nicht immer gut an.

"Mich irritiert das Wort: Sammeltätigkeit", begann Anna. "Sowohl im Text als auch in diesem Seminar wird ausschließlich von Sammeln gesprochen, obwohl viele Professor*innen aus einer postkolonialen Position eher Wörter wie Plünderung und Raub verwenden. Mit welcher Rechtfertigung wird auf diese Benennungen verzichtet?" Der Professor hörte aufmerksam zu und nickte. Vielleicht gab es doch Hoffnung auf Einsicht. Doch dann erklärte er: "Das Seminar setzt andere Schwerpunkte als kolonialkritische Vorlesungen. Im Seminar liegt der Fokus darauf, historische Denkweisen aus einer bestimmten Zeit zu veranschaulichen."

Der Raum war still. Anna schaute in die Runde, hoffte auf Solidarität und Unterstützung. Die Möglichkeit einer Gruppendiskussion wich jedoch einem scheinbaren Dialog, indem auch Annas Fragen unbeantwortet blieben. Sie wurde enttäuscht. "Jede Lehrveranstaltung sollte doch kolonialkritisch sein, vor allem wenn über diese Zeit berichtet wird, egal welche Fragestellung im Fokus steht", fuhr Anna fort. "Sammeltätigkeit: Diese Wortwahl führt zur Verharmlosung von Gewalt. Sie verschleiert und relativiert. Bewusster Sprachgebrauch ist ein Zeichen der Empathie, der Anerkennung und des Respekts." Ihre Stimme zitterte vor Emotionen. Sie hatte nicht erwartet, dass sie so sehr berührt sein würde.

Der Professor runzelte die Stirn. "Es wird Wert darauf gelegt, verschiedene Ansätze zu berücksichtigen, ohne eine einseitige Perspektive zu bevorzugen, da dies dem Fachgebiet nicht angemessen wäre. Es geht darum, den Teilnehmenden Informationen zu vermitteln, damit sie in der Lage sind, sich eine fundierte eigene Meinung zu bilden." Anna war sprachlos. Sie erkannte sofort das Ausweichmanöver des Professors, um unangenehme Diskussionen zu vermeiden. Ihre Anregungen wurden ignoriert.

Anna war der Meinung, dass alle Professor*innen die Aufgabe hätten, eine kritische Reflexion über historische Ungerechtigkeit zu fördern und zur Sensibilisierung für deren Folgen beizutragen. Nicht ohne Grund wurde seit so vielen Semestern das Konzept des Eurozentrismus und des Ethnozentrismus gelehrt. Sie überdachte die Aussagen des Professors. Welche anderen Zugänge und Sichtweisen gab es zum Kolonialismus? Wie ist es möglich, dass der koloniale Raub nicht als historische Realität wahrgenommen wird? Von welcher einseitigen Perspektive spricht der Professor? Warum wird das Wort Raub und Plünderung dem Fach nicht gerecht? Diese Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum. Im gleichen Moment ertönte die Stimme des Professors: „Ich hoffe, dass diese Erläuterungen einige "Unklarheiten" beseitigt haben“. Das Seminar wurde fortgesetzt und Annas Bedenken ignoriert.

Während des Rests des Seminars dachte Anna über die vielen Berichte europäischer Museen nach, die lange Zeit von der angeblichen "Sammeltätigkeit" im Kolonialismus profitiert hatten. Immer mehr Museen begannen jedoch darüber nachzudenken, koloniale Raubkunst zurückzugeben. Diese Aufarbeitung und Anerkennung kolonialer Vergangenheit waren ein Zeichen historischer Gerechtigkeit und eine Geste der Wiedergutmachung kolonialer Verbrechen. Anna erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter, als sie als Kind zum ersten Mal ein ethnologisches Museum besuchten: "Vergiss nicht, Anna, dass diese ganzen Objekte uns gar nicht gehören. Das ist alles nur geklaut.“ Doch trotzdem gab es immer noch Professor*innen, die dieses Unrecht verharmlosten und die Aufarbeitung verhinderten.

Ein Lichtblick für Anna war die bevorstehende Einheit eines anderen Seminars. Obwohl der Titel des Seminars nicht direkt den Kolonialismus einschloss, förderte die Professorin aktiv die Bewusstseinsbildung, Sensibilisierung und eine kritische Reflexion über verschiedene Themen. Anna schätzte ihr offenes Ohr und die Offenheit gegenüber vielfältigen Perspektiven. Als das Seminar zu Ende war, konnte Anna endlich erleichtert aufatmen.

Ungehörte Stimmen und die Suche nach Lösungen

Einige Wochen vergingen, und Anna fand sich in ihrem Seminar zur qualitativen Forschung. Wie ironisch, dass sie gerade qualitative Forschung über eben dieses Seminar betrieb. Das Programm des Seminars war jedenfalls dicht, sehr dicht. Jede der vierstündigen Seminar-Einheiten war bis in die kleinste Faser durchgeplant. Zeit für frontale Vorträge, Zeit für Austausch, Zeit für Präsentationen, Zeit für Feedback. Doch selbst in dieser straffen Struktur fand sich Raum für etwas Unvorhergesehenes. Die Seminarleiterin nahm sich diesmal die Zeit für eine Diskussion, die nicht im Lehrplan dieses Seminars vorgesehen war.

“Wie ihr sicher mitbekommen habt,” begann sie und richtete ihren Blick auf die müden Gesichter ihrer Studierenden, die sich schon um neun Uhr morgens zur Uni quälen mussten, “gab es zuletzt eine hitzige Debatte rund um Rassismus im Institut.” Die Art und Weise, wie die normalerweise distanzierte Seminarleiterin dieses Thema ansprach, ließ vermuten, dass im Hintergrund einiges geschehen war. Selbst die Schläfer*innen in der hintersten Reihe spitzten die Ohren: Nichts ist spannender als Klatsch und Tratsch über Profesor*innen, die Kolleg*innen oder das Institut.

“Und ich wollte euch hier den Raum geben, um über eure Erfahrungen zu sprechen und euch auszutauschen,” erklärte sie. Aha, okay, kein Gossip, sondern Plenum; schade.  Aber doch, einige Hände schnellten nach oben, Kolleg*innen teilten ihre Geschichten: Das N-Wort in der Vorlesung, Relativierung von Kolonialismus. Dass diese Geschichten niemanden überraschten, ist Teil des Problems: Rassismus am Institut ist Realität.

Die Frage blieb: Wie damit umgehen? Hier verhärteten sich die Fronten. Die Professorin pochte auf den Dialog. Ein “gegenseitiges Anschreien”, wie sie es nannte, führe zu nichts. Einige Studierende argumentierten, dass Wut und Frust in diesem Diskurs durchaus berechtigt seien. Dass ein kantiger Protest sehr viel mehr Überzeugungskraft besitzt als ein vermeintlicher Dialog.

Und überhaupt: “Was für einen Dialog meint sie? Wenn alle Personen aufzeigen müssen, um zu reden, nur eine Person darf immer reden? Wenn alle sitzen müssen, außer eine Person, die darf stehen und sich sogar bewegen? Einen Dialog, bei dem eine Person am Ende alle anderen benotet? Auch hier, in diesem Seminar, ist das so ein ‘Dialog’.” dachte sich Anna. Sie wartete gespannt und mit angehaltenem Atem, ob jemand auf diese bestehende Hierarchie in der Situation hinwies oder sie gar in Frage stellte. Die Frage, ob man Kritik an der Lehrperson üben dürfe, schwebte im Raum, über den Köpfen der Studierenden wie eine regenträchtige Gewitterwolke, die jeden Moment die schweren Tropfen auf die Studierenden fallen lassen konnte. Die gemischten Gefühle der Studierenden blieben auch lange nach dem Seminar bestehen. Was blieb übrig bei Anna? Ja, cool, dass sie einen Dialog in Ihrem Seminar ermöglicht, aber wie viel Dialog ist es wirklich, wenn er zu Bedingungen und zu Gunsten einer Person stattfindet?

Unten, vor dem Nig, kamen die Seminarteilnehmer*innen nochmal im Raucher*innenbereich zusammen und mit einer Tschick in der Hand genossen sie die nicht ganz so akademischen Aspekte des Student*innenlebens. Sie führten die Diskussion von vorher, also Rassismus am Institut, fort, leise, weil ja immer noch jederzeit wer vom Institut vorbeigehen könnte. Tina erzählte von einem extrem rassistischen Text, der letzte Woche im Unterricht behandelt worden war. Die Beschreibung sei zweifellos verletzend und explizit gewesen. Sie schaute zu Boden und sagte: "Ich habe mich irgendwie erst nach einer Weile getraut, etwas zu sagen." Mit einem Fuß drückte sie ihre Tschick aus, die kurz zuvor noch in ihrem Mund gehangen hatte. "Es ist halt komisch, wenn man sich zu Themen äußert, die einen selbst nicht betreffen, wisst ihr? Aber ich habe dann doch etwas gesagt, weil ich mir dachte, es könnte einer Person aus dem Kurs wirklich schlecht damit gehen." Sie schaute in die Runde und erhoffte sich schweigende Zustimmung. "Die hat dann auch voll angefangen zu weinen [...] ich meine, es war einfach krass." Ein anderer Student, der gerade zur Gruppe gestoßen war, sagte mit fragender Stimme: "Wir müssen halt lernen, auch mit der Heftigkeit dieser Themen umzugehen..." Tina unterbrach ihn: "Ja, Alter, aber so war das einfach nicht in Ordnung. Es war schon total unangenehm für mich, aber stell dir vor, du sitzt da und musst das lesen, wenn du selbst Schwarz bist? Die Dozentin hat sich in der Vorbereitung halt keine Gedanken gemacht, dass jemand von uns vielleicht nicht weiß ist."

Die Gruppe wurde abrupt still, als die Tür aufging und Maika herauskam. Sie grüßte Anna, die am nächsten an der Tür stand und wurde gestoppt. "Du, Maika, ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie das für dich war?" "Was denn? Sorry, ich habe mein Zeug zu Hause vergessen. Kann ich mir eine drehen?". "Ja, hier." Tina reichte der Seminarkollegin ihre kleine Ledertasche. "Das im Seminar, ich wollte dir danach schreiben, aber ich wollte auch nicht nerven. Nachdem du gegangen bist, hat das die Prof schon mitgenommen." "Ja, scheiße war das! Ich meine, ich hatte schon einen schlechten Tag, aber das war extrem unangenehm. Nicht nur, weil ich so etwas eigentlich nicht lesen muss, um zu verstehen, wie schlimm rassistisch Menschen sein können. Aber ja, die Prof ist eigentlich voll nett, ich glaube, sie hat sich das irgendwie nicht ganz durchdacht." Die Zigarette war fertig, aber die Geschichte noch nicht. Maika lehnte sich auf ihr Rad und erzählte den Neugierigen weiter: "Meine Erwartungen an manche Profs sind eh schon so niedrig, aber dann werde ich trotzdem enttäuscht.” Ein, zwei tiefe Atemzüge. “Aber danke euch, dass ihr hinter mir gestanden seid, das passiert mir leider viel zu selten. Die Prof hat mir wenigstens danach eine E-Mail geschrieben, dass sie sich entschuldigen will."

Das Gespräch zerfloss in kleine Diskussionen über den Seminar-Stoff und mögliche Präsentationsthemen. Doch immer wieder kehrte das Thema zurück. “Ja, zumindest hat die Prof auf die Kritik reagiert.” meldete sich Lea. “In der Vorlesung haben wir uns beschwert, weil der Prof schon wieder rassistische Sprache verwendet hat. Er hat uns einfach unterbrochen und gesagt, dass wir uns ja beschweren gehen können. Erstens: Wo? Und Zweitens: Als ob das irgendeinen Unterschied macht! Wenn die mal Professor*innen sind, kannst du die nie wieder feuern.” Lukas fügte hinzu: “Wie egoistisch kann man als Prof sein, wenn man auf einen Fehler hingewiesen wird, aber zu stur ist, ihn einzusehen! Genau darum geht's in der Kultur- & Sozialanthropologie doch, sich selbst und die Gesellschaft immer wieder aufs Neue zu reflektieren.” Anna hörte gespannt zu und versuchte sich alles so gut wie möglich zu merken, um es später in ihrem Feldtagebuch notieren zu können.

Bei dem brisanten Thema schaltete sich auch Franziska ein, sie ist Nichtraucherin, aber ist trotzdem immer dabei, da sie vor dem Institut Eingang immer die topaktuellen Vorkommnisse in der Universität erfuhr. Sie erzählte von einer Vorlesung im zweiten Semester ihres holprig-laufenden Studiums, die sie besonders nachdenklich stimmte: “Da hatte ich das erste Mal ein richtig seltsames Gefühl.” Der Professor begann mit einer hitzigen Ansprache aufgrund von "übersensiblen" Studierenden, die angeblich seinen guten Ruf beschädigten. Ab sofort müsse er Ausdrücke kürzen oder ganz weglassen. Diese ausgesprochenen Worte wären laut ihm aber wichtig, da Abkürzungen die Realität verzerren.

Franziska betonte: “Wir reden hier von massiv diskriminierenden, rassistischen oder heterosexistischen Aussagen”. Auch Anna kannte den Professor zu genüge: “Ja, der ist generell fragwürdig. Letztens hat er respektlos über ‘seine Forschungssubjekte’ geredet.”
Franziska fuhr fort: “Die vorgeschriebene Lektüre war ja auch die größte Frechheit, sie enthielt ebenfalls solche Ausdrücke, die nicht erörtert oder in einen Kontext gestellt wurden. Aber Hauptsache wir verbringen vier Stunden damit, über symbolische Gewalt, Habitus und soziales Kapital zu reden, ohne es wirklich zu verstehen.” Luisa, eine Studentin, die kürzlich erst ins zweite Semester gekommen war, fragte zögerlich: “Von dem habe ich noch nie etwas gehört, was bedeutet das?”. Franziskas Gesicht erhellte sich mit einem Lächeln. Auf Luisas Nachfrage erläuterte sie ihre Gedanken: „Symbolische Gewalt steckt in den rassistischen Vorurteilen und Klischees, die der Professor unreflektiert weitergibt. Dadurch werden rassistische Denkweisen und Handlungen normalisiert und als wissenschaftlich fundiert dargestellt. Der Habitus des Professors beeinflusst die Art und Weise, wie er die Welt wahrnimmt und sich in ihr verhält. Das kann zu solch unbedachten Äußerungen führen. Seine Stellung an der Universität verleiht ihm soziales Kapital, Autorität und macht seine Sichtweisen salonfähig. So reproduziert er bestehende Machtgefüge und verstärkt rassistische Strukturen und Hierarchien in der Universität.“ Tina schmunzelte: “Hätte der Professor diese Beschreibung als Beispiel für Bourdieus Konzepte (1999) genutzt, hätte ich meine Prüfung gleich beim ersten Versuch geschafft”.

Die Gruppe lachte auf und das Gespräch verlor sich in einem nicht-mehr universitären Rahmen. “Woll ma noch was trinken geh’n?” Zustimmung von allen Seiten. Nach dem gewohnten und dennoch mühsamen Warten an den Ampeln an der Kreuzung auf dem Weg zum Votivpark, suchten sie sich dort ein gemütliches Plätzchen auf der Wiese. Umgeben vom Stimmengewirr zahlreicher anderer Student*innen und unter den warmen Sonnenstrahlen stießen sie mit ein paar Dosen Bier an, mehr frustriert als genüsslich. Frust mit Alkohol zu ertränken ist schließlich eine weitverbreitete Praxis der österreichischen Kultur.

Der kleine Raum und die großen Themen: Ethnographische Einblicke ins Studi-Kammerl

Am nächsten Tag machte sich Luisa, die junge Studentin aus dem zweiten Semester, auf den Weg zum Studi-Kammerl der Kultur- und Sozialanthropologie. Das Kammerl ist der einzige kleine Aufenthaltsraum der Studierenden im Institut und gleichzeitig das Büro der Studierendenvertretung. Sie wollte ihr Mittagessen dort in der Mikrowelle aufwärmen, hatte jedoch noch immer den Nachgeschmack vom grauslichen Automaten-Kaffee im Mund. Als sie zögerlich die Tür öffnete, um sich den Raum anzuschauen, der ihr noch kaum vertraut war, fand sie ihn voll besetzt. Auf den zwei gegenüberliegenden Sofas tobte eine hitzige Diskussion. Ein kurzes "Hallo" entkam ihr, bevor sie sich direkt zur Mikrowelle begab.

Das Kammerl war ein Spiegelbild des Fachs selbst. Bücher und halb abgewaschenen Tassen säumten die Regale, während die Sofas eine Arena für Diskussionen bildeten. Auf den Wänden prangten Bilder, Plakate und Kunstwerke. Jedes Möbelstück war ein Unikat und trug zur Atmosphäre bei. Der flexible Arbeitsbereich war sowohl für Einzelarbeit als auch für Gruppenprojekte geeignet. Trotz des scheinbaren Chaos erkannte Luisa eine verborgene Ordnung.

Während der Countdown der Mikrowelle herunterlief, lauschte sie der Diskussion gespannt. Eine weiblich-gelesene Person äußerte ihren Frust darüber, sich immer wieder gezwungen zu fühlen, Diskriminierung zu melden. "Ich bin es leid, jede rassistische Situation zu melden. Als hätte ich es nicht schon zur Genüge erzählt", seufzte sie. Eine tiefere Stimme ergriff das Wort: "Warum müssen Betroffene immer wieder beweisen, dass das Problem real ist? Es ist Zeit, dass sich das Institut aktiv mit strukturellem Rassismus auseinandersetzt."
Luisa erinnerte sich an eine Grafik aus der Orientierungsphase, die ihr ein ungutes Gefühl gegeben hatte. Die Comicfigur in der Grafik beinhaltete eine problematische Farbgebung, die eine bestimmte ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit suggerierte. Diese Reduktion und Vereinfachung auf wenige stereotypische Merkmale ignorierte die Vielfalt innerhalb der asiatischen Gemeinschaft. Nach wie vor deutete Luisa das Bild als Verstärkung von Vorurteilen und negativen Wahrnehmungen. Diese klischeehaften Darstellungen wurden historisch oft in abwertender Weise verwendet, zum Beispiel bei rassistischen Karikaturen. Doch Zweifel hatten ihre Stimme in der Vorlesung verstummen lassen. Das Geräusch der Mikrowelle unterbrach die Diskussion im Studi-Kammerl abrupt. Luisa entnahm hastig ihr Essen und entschied sich, am Tisch zu bleiben. Sie tat, als würde sie was am Handy lesen, und lauschte der Diskussion weiter.
Die höhere Stimme meldete sich wieder: „Ich habe das Gefühl, wenn ich mich in einer Vorlesung melde und anspreche, dass ich bestimmte Aussagen rassistisch finde, dann werde ich als sensibel abgestempelt, da ja SIE die Expert*innen sind.” Luisa fühlte sich bestärkt. Vielleicht hätte sie doch etwas sagen sollen. Luisa beschloss, ihre Erfahrungen und Beobachtungen mit Anna zu einem späteren Zeitpunkt zu teilen, da sie als Masterstudentin länger im Institut verkehrte und wahrscheinlich mehr Hintergrundwissen besaß. Jetzt meldete sich ein*e andere*r Student*in zu Wort: „Ich glaube, die haben Angst! Für sie bist du zuallererst eine Studentin, deine Aussage ist unwissenschaftlich, du redest aus Emotionen. Diese persönliche Betroffenheit legen sie als Schwäche aus … als eine subjektive Perspektive basierend auf Meinungen oder Erfahrung. Das, was aber eigentlich passiert, ist, dass es ihnen wehtut, dass du ihre Kompetenz anzweifelst.” „Natürlich tut das weh, aber sie kämpfen in dem Moment um ihre Reputation als Wissenschafter*in, ich um meine Existenz. Sie können jederzeit diese Diskussion verlassen, ich bleibe Schwarz“. antwortete die Studentin der*dem Mitstudierenden. Es ist offensichtlich ein höchst emotionales Thema, auf beiden Seiten, aber aufgrund anderer Lebensrealitäten und vor allem durch eine ganz klare Hierarchie.

Luisa fühlte plötzlich eine Unruhe in sich aufkommen. Seit ihrem ersten Semester in der Kultur- & Sozialanthropologie, wusste sie, dass verdeckte Beobachtung unethisch war, und dennoch fand sie sich jetzt in der Rolle der stillen Zuhörerin wieder. Soll sie sich einmischen? Doch was kann sie beitragen? Sie, die von bestimmten Privilegien und Vorteilen profitierte, indirekt von Rassismus begünstigt wurde. Luisa spürte einen Kloß im Hals, als sie die letzten Bissen ihrer Mahlzeit hinunterschluckte. Als sie den Raum verließ, schwirrten ihr viele Fragen durch den Kopf. Doch eine Frage brannte sich besonders tief ein:

How to be a good ally?

Kritische Blicke und stille Proteste

Lea kam gern ein paar Minuten früher zu ihren Lehrveranstaltungen, zumindest wenn es die Öffis zuließen, um für sich und ihre Freund*innen einen angenehmen Platz im Hörsaal zu reservieren. Heute stand "Methoden” im Hörsaal II auf dem Plan. Ganz anders eine Mitstudentin, die zehn Minuten zu spät erschien und sich dann noch sehr selbstbewusst und fast schon frech in die erste Reihe setzte. Die Blicke der Mitstudierenden folgten ihr. Obwohl der Unterricht begann, blieb die Aufmerksamkeit auf die später Ankommende gerichtet. Die Architektur des Hörsaals formte dabei eine Art soziales Gefüge. Die hinteren Reihen erhoben sich wie eine Tribüne, während die vorderste Reihe den niedrigsten Punkt markierte, wo jedes Detail gut sichtbar war.

Lea und einige andere Kolleg*innen beobachteten den Bildschirm der Studentin, der jetzt gerade interessanter als die PowerPoint des Professors wirkte. Lea erkannte, dass die Studentin an ihrem Laptop auf einer Grafikdesign-Plattform arbeitete. Kurz wurde ihr Blick von Anna abgelenkt, die in der zweiten Reihe hinter der ominösen Mitstudierenden saß. Wie fast immer in den Vorlesungen, zeichnete Anna etwas. Lea schaute zurück auf das Grafik-Layout: "You didn’t learn about anthropology from a zoologist, now why would you learn about racism only from white people?" konnte sie mit zusammengekniffenen Augen lesen und ahnte noch nicht, was bald im vierten Stock vor sich gehen würde.

Eine Woche später, wieder nach der Vorlesung zu Methoden, quälte sich Lea zusammen mit vielen anderen Studierenden die Stufen in den vierten Stock hoch. Sie bemerkten die Plakate, verteilt in den Gängen des Kultur- & Sozialanthropologie-Instituts. Es waren keine gewöhnlichen Plakate, wie sie immer hingen, sondern solche, die Leas Blick und den vieler anderer besonders einfingen. Plakate, die zum Denken anregten. Vielleicht auch Plakate, die provozierten. Auf jeden Fall Plakate, bei denen etwas – ganz viel – dahintersteckte.

Auf diesen DIN-A4-Seiten, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht waren, waren Bilder und Informationen über Forscher*innen zu finden – Persönlichkeiten, die gehört werden sollten, deren Präsenz im akademischen Raum jedoch oft marginalisiert wurde. "You didn't learn about anthropology from a zoologist, now why would you learn about racism only from white texts?" prangte auf einer dieser Seiten. Eine eindringliche Frage, die die Grundfesten des herkömmlichen Lehrkanons erschütterte. Es war eine stille Rebellion gegen die herrschende Ordnung, die hier ihren Ausdruck fand. In den verborgenen Ecken des Instituts manifestierte sich der Wunsch nach Vielfalt und Inklusion.

Doch wer sprach überhaupt über Rassismus und Kolonialismus in den Lehrveranstaltungen? Welche Stimmen wurden gehört und welche systematisch zum Schweigen gebracht? Welche Texte wurden als zentral betrachtet, und wer entschied darüber? Inmitten dieser Fragen und Unsicherheiten entfaltete sich eine leise Revolution, die den etablierten Narrativen etwas entgegenzusetzen hatte. Die Seiten mochten verschwinden, aber ihr Echo hallte durch die Gänge des Instituts wider. Und mit jeder verschwindenden Botschaft wuchs die Überzeugung, dass Wandel möglich war – wenn man nur den Mut hatte, ihn anzustoßen.

Auf den Plakaten waren auch BIPoC Anthropolog*innen zu sehen wie Frantz Fanon, W.E.B. Du Bois, Aŋpétu Wašté Wiŋ, Zora Neale Hurston und Anténor Firmin. #SAYTHEIRNAMES. Namen, die Lea alle kennen sollte, aber nicht kannte. Gesichter, an die man sich erinnern sollte, die aber leicht vergessen wurden, da sie im Unterricht viel zu selten vorkamen. Bekannter waren Lea die Missionar*innen und die koloniale Geschichte der anthropologischen Disziplin mit Beispielen von rassistischen weißen Anthropolog*innen. Auswendig kannte sie Texte wie die “Argonauten des Pazifik” oder “Urvölker”. Hoffnung kam in Lea auf, als sie sah, dass sie nicht die Einzige war, die diese wissenschaftliche Praxis der Anthropologie störte. Gleichzeitig kamen neue Fragen auf. Wieso hörten wir so selten von diesen Personen in unserer Disziplin? Von den Personen, die schon in Zeiten, in denen Rassenlehre noch allgemein anerkannt war, gegen Rassismus gekämpft hatten? Wo blieb eine emanzipatorische, antirassistische und dekoloniale Anthropologie?

Diese Plakate, die so normal sein sollten wie ein Werbeplakat für eine 0815-Ringvorlesung, lösten so viel aus. Sie nahmen Lea auf eine gedankliche Reise mit, hinaus aus dem Gang des Kultur- & Sozialanthropologie-Instituts in Wien, in die Karibik oder in die USA zu einer Zeit, wo Rassismus noch anders aussah. Wo Anthropolog*innen ihrer Zeit, rassifiziert in der Gesellschaft – und erst recht in der Wissenschaft – unermüdlich gegen die Hegemonie publizierten, nur um vom Schleier des weißen Vergessens überzogen zu werden. Die Geschichte war nicht weiß - sie wurde weißgewaschen.

Schwarze Menschen sind heutzutage Teil der Wissenschaft, und der Rassismus wird für beerdigt gehalten. Doch Rassismus ist immer noch präsent. Auch im Kultur- und Sozialanthropologie-Institut ist er allgegenwärtig, wenn auch in anderer Form. Er zeigt sich darin, dass solche Plakate als aufmüpfig galten – für manche im guten Sinne als Protest, denn sie sahen darin den progressiven Aktivismus, den sie sich wünschten und den sie brauchten; für andere im schlechten Sinne als Beleidigung und Frechheit. Mit Kultur- & Sozialanthropologie als Zweitstudium war Lea nie besonders involviert in das Studierendenleben am Institut gewesen, aber dennoch hatte sie durch Hörensagen von rassistischen Äußerungen in einer Vorlesung mitbekommen. Auch in der Anthropost, dem Newsletter des Instituts,  hatte sie davon gelesen.

In Gedanken versunken, fiel Lea gerade noch rechtzeitig ein, dass gleich der erste Termin des Seminars "Zentrale Texte" stattfand. Als sie den Raum betrat, leuchteten ihr Farben an der Tafel entgegen und verwundert las sie die Worte: „What about contributions of African & Black scholars?“ Statt der erwarteten Lehrperson standen zwei Studierende vorne, die Finger voller Kreidestaub und eine Liste in der Hand. Die Lehrperson stand daneben und schien selbst überrascht über dieses Ereignis.

Die zwei Studierenden erzählten davon, dass sie sich mit dem Thema Dekolonialisierung nach einem Vortrag am Institut auseinandergesetzt hatten. Ein angesehener Professor, der schon seit einigen Jahren ein fester Bestandteil der Wiener Kultur- und Sozialanthropologie war, hatte sich verantwortlich gefühlt, Veränderungen und Reflexion in den kolonialen Diskursen zu fördern. Der besagte Professor verwies im Vortrag immer wieder auf ein Internetforum, bei dem sich verschiedenste deutschsprachige Institute der Anthropologie und Ethnologie zusammengeschlossen hatten, um eine Plattform für dekoloniale Arbeit zu bieten. Darauf wurden Texte hauptsächlich von Schwarzen Anthropolog*innen vorgestellt. Dekoloniale Arbeit, die endlich über die leeren Worte einiger weißer Lehrender hinausging, die sie bis jetzt gehört hatte. Im Forum hatten die Studierenden konkrete Bereiche, Überlegungen, Forschungsansätze und Forschungen kennengelernt. Die Texte und Anthropolog*innen hatten neue Hoffnungen in den beiden geweckt. Diese wichtigen Überlegungen wollten sie auch in die früheren Semester einbringen. Dafür hatten sie eine alternative dekoloniale Literaturliste zusammengestellt, auf die die Studierenden und Lehrenden über einen QR-Code zugreifen konnten. Durch das Scannen des QR-Codes kam Lea zu einer Website, auf der zuerst das Proseminar selbst vorgestellt wurde.

Während Lea die Webseite betrachtete, dachte sie zum ersten Mal über den Namen des Proseminars „Zentrale Texte“ nach. Laut Webseite widmete sich dieses Seminar den Lektüren und Diskussionen jener Schriften, die als Grundpfeiler der Kultur- und Sozialanthropologie galten. Lea kamen schon hier viele Fragen in den Sinn: Welche Lektüren zählen zu den zentralen Texten der Disziplin und wer entscheidet, welche Texte zentral sind? Wer bestimmt, welche Texte in diesen Kanon aufgenommen wurden? Und wer entscheidet, welche Stimmen als zentral gelten? Die Antwort war mit einem Blick auf die Webseite klar: die Studienprogrammleitung und ausgewählte Lehrende.

Fünf Texte mussten in das Seminar eingebracht werden – Texte von bekannten Anthropologen wie Malinowski, Boas und Geertz, deren Werke unweigerlich in der Pflichtlektüre auftauchten. Diese Texte wurden als Grundlagen angesehen, doch sie reproduzierten auch koloniale Strukturen. Lea, eine neugierige und kritische Studentin, konnte die latente Spannung spüren, die in der Luft lag. Sie hörte den Vortragenden nicht mehr aufmerksam zu - ihre Gedanken schweiften ab. Lea überlegte, wie diese Ansätze die unausgesprochenen und unanalysierten epistemischen Wurzeln der Disziplin widerspiegelten. Die eurozentrische Moderne hatte die Epistemologie instrumentalisiert, um Europa und Nordamerika in den Mittelpunkt zu stellen, indigene Gruppen zu unterwerfen und eine Hierarchisierung von Wissen zu etablieren. “Epistemicides” – das Töten bestehender endogener Wissensformen – nannten es einige, darunter Ndlovu-Gatsheni (2021), dessen Schriften nicht zu den Pflichttexten gehörten.

Auf der Webseite ließ sich die Literaturliste mit einem Drop-down Menü öffnen und Lea überflog schnell die Namen und Titel. Sie klangen fremd, doch irgendwie resonierten die Titel mit den Gedanken, die in ihr schlummerten. Zwei Fragen sprangen ihr ins Auge: "Welche Stimmen werden nicht ausreichend gehört?". “Reicht die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Texten aus, um den Prozess einer dekolonialen Lehre zu erreichen?"

Lea war begeistert. Der Text griff die Fragen auf, die sie schon lange beschäftigten. Doch die Lehrperson schien weniger begeistert von dieser Unterbrechung und wollte das Seminar nun starten. Lea fragte sich, warum sie, die Studierenden, so wenig über andere wichtige Anthropolog*innen gehört hatten und dachte über die Universität, den Kanon und das Proseminar nach. Veränderungen drangen nur langsam durch das starre Gefüge rassistischer Strukturen und Praxis.

Am nächsten Tag traf Lea eine Kommilitonin, die an der Aktion teilgenommen hatte. Sie erzählte, dass ein Professor sie motiviert habe, kolonialkritisch zu handeln und ihr Wissen zu teilen. Sie hatten Kreide und eine Liste mit dekolonialer Literatur in die Hand genommen und waren in die erste Einheit aller sechs Gruppen des Proseminars gegangen. Die Idee einer dekolonialen Lehre fand Anklang. Während die Lehrperson in Leas Gruppe die Augen verdrehte, freuten sich andere Lehrende über die Zitate an der Tafel und ermutigten die Studierenden, über ihre Kampagne zu sprechen. Die Literaturliste wurde auf Moodle-Plattformen geteilt und weiter ergänzt.

"Die Tafeln wurden für etwas Wichtiges genutzt," sagte die Kommilitonin, "denn die Studierenden wurden aufmerksam und Lehrende haben ihre Position deutlich gemacht. So konnten wir alle voneinander lernen. Unsere Kampagne konnte auf den Grundsteinen der bereits geleisteten dekolonialen Arbeit von Studierenden und Lehrenden aufblühen. Hoffentlich haben alle etwas davon mitgenommen." Lea lächelte. Es war ein kleiner, aber wichtiger Schritt in Richtung einer gerechteren Wissenschaft.

Echos der Vergangenheit, Stimmen der Zukunft

Zur selben Zeit, als der Trubel dieser Aktionen das Institut aufwirbelte, ereignete sich eine weitere Episode: Der schmale Gang erstreckte sich vor Elliot, der Linoleumboden abgenutzt und von unzähligen Schritten zerkratzt. Das Summen der Neonlichter hallte über dem Raum wieder und tauchte die beigen Wände in ein steriles Licht. Elliot beschleunigte deren Schritte, der Rucksack zerrte an deren Schultern. Deren Vorlesung würde gleich beginnen, und Verspätung war keine Option. Als dey dem Ende des Flurs näher kam, erreichten dey die gedämpften Stimmen zweier Dozentinnen. Ihre Unterhaltung schwebte durch die Luft wie flüchtige Flüstertöne und zog dey unwiderstehlich an. Was diskutierten sie so leidenschaftlich?

Die erste Dozentin stand neben der Kaffeemaschine. Ihre Finger trommelten ungeduldig auf der Arbeitsplatte. Ihr graumeliertes Haar war zu einem straffen Knoten gebunden, und ihre Brille ruhte auf der Nasenwurzel. Sie strahlte Autorität aus, eine erfahrene Akademikerin, die zahllose Debatten überstanden hatte. An ihrer Seite lehnte eine externe Lektorin an der Wand, die Arme verschränkt. Ihre Augen funkelten vor Intensität, und ihre Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit war unter den Studierenden bekannt. Sie trug einen bunten Schal, der sich deutlich von ihrer sonst monochromen Kleidung abhob. Ihre Stimmen stiegen und fielen, ein Tanz aus Ideen und Überzeugungen. Die externe Lektorin gestikulierte lebhaft, ihre Worte vom Zischen der Kaffeemaschine begleitet, während die ältere Dozentin zuhörte, ihr Gesichtsausdruck undurchschaubar. "Auch Elliot hörte weiter zu, unfreiwillig zur lauschenden Person geworden.

“Maryam”, sagte die Dozentin zur externen Lektorin, ihre Stimme bedacht, “ich verstehe die antirassistischen Bemühungen der Studierenden. Aber wir müssen auch unsere eigene Position anerkennen.” Maryam runzelte die Stirn. “Anerkennung reicht nicht, Elma. Wir müssen handeln. Das System perpetuiert Ungleichheit, und wir –” Elma hob die Hand. “Hör zu. Wenn sie uns herausfordern, ist es kein Angriff. Es ist eine Bestätigung. Eine Anerkennung, dass wir Macht haben. Anstatt uns verletzt zu fühlen, sollten wir erkennen, dass sie uns zu Verbesserungen antreiben.” Maryams Augen verengten sich. “Aber sehen sie uns als Verbündete oder Hindernisse?” “Das ist die Frage”, erwiderte Elma. “Und wir können sie nicht eindeutig beantworten. Aber vielleicht geht es nicht um ihre Wahrnehmung. Es geht um unser Engagement.”

Die Kaffeemaschine zischte, und Elma schenkte sich eine Tasse ein. Der Dampf kräuselte sich nach oben, eine Metapher für die hitzige Debatte. Maryams Frustration war greifbar, ihre Leidenschaft drohte überzukochen.

“Ich möchte eine Verbündete sein”, sagte Maryam leise. “Aber manchmal fühle ich mich verloren. Als stünde ich auf wankendem Boden.” Elma nippte an ihrem Kaffee, ihr Blick in die Ferne gerichtet. “Ein Verbündeter zu sein bedeutet, Unsicherheit zu navigieren. Es bedeutet, aus Fehlern zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Wir werden nicht immer richtig liegen, aber wir müssen es weiter versuchen.”

Während die Unterhaltung weiterging, schlich Elliot sich davon, deren Schritte hallten im leeren Flur wider. Dey fragte sich, ob Maryam Trost in Elmas Worten finden würde, ob der kaffeefleckige Linoleumboden eine Veränderung miterleben würde. Die Stimmen der Dozentinnen verblassten, und dey blieb mit unbeantworteten Fragen zurück. Fühlte sich Maryam bestätigt oder verletzt? Würde Elmas Weisheit über den Kaffeegeruch hinaus nachhallen? Dey würde es nie erfahren.

Am nächsten Tag machte sich Elliot auf den Weg zu einem Treffen der neu gegründeten „Arbeitsgruppe gegen intersektionale Diskriminierung und Rassismus“. Sie war ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Bewusstsein für die Problematik vorhanden war. Die Gründung der Antirassismus-Arbeitsgruppe war Ausdruck eines entschlossenen Strebens nach Veränderung und Gerechtigkeit. In dieser vielfältigen Gruppe kamen Mitglieder aus verschiedenen Ebenen der akademischen Gemeinschaft - Studierende, Prae Docs sowie Lehrende - zusammen. Sie vereinten sich mit dem gemeinsamen Ziel, die verborgenen und oft unbequemen Wahrheiten der Anthropologie und der universitären Lehre anzugehen. Die Agenda dieser Arbeitsgruppe war weitreichend und anspruchsvoll. Sie entwickelte Richtlinien für eine aktiv anti-diskriminierende und anti-rassistische Lehre und organisierte Workshops, um Lehrende und Studierende in diesem Prozess zu unterstützen. Darüber hinaus bot sie Treffen an, die denjenigen, die von Diskriminierung betroffen waren, Raum für Empowerment und Solidarität boten. Doch die Arbeitsgruppe war mehr als nur ein Ort der theoretischen Reflexion. Sie war ein lebendiges Netzwerk von Menschen, die sich entschlossen hatten, aktiv gegen Ungerechtigkeit vorzugehen und eine Kultur des Respekts und des Miteinanders zu fördern.

Elliot saß in der Sitzung, aufmerksam den Stimmen der Arbeitsgruppe lauschend. Deren gespitzter Bleistift lag bereit, um alle Informationen bis ins kleinste Detail festzuhalten. Schnell kristallisierten sich zwei Studentinnen heraus, Tina und Franziska, die eine zentrale Rolle in dem Meeting einnahmen. Das Thema drehte sich um die Rekapitulation eines aktivistischen Projekts während der Weihnachtszeit. Elliot, als Mitglied der Studierendenvertretung, wusste sofort, um welche Aktion es ging. Zugleich erinnerte dey sich daran, dass dey für die Feldforschung den Blick verfremden musste. Und so kam es, dass Elliot während der Sitzung nachfragte, um welches Projekt es sich handelte. Tina ergriff sofort das Wort. Ohne zu zögern und voller Energie erzählte sie von den Vorkommnissen, die sich abgespielt hatten:

Die Winterferien hatten gerade begonnen. Die meisten Studierenden atmeten erleichtert auf und freuten sich darauf, eine Auszeit von der Universität zu nehmen. Aber ein paar fanden keine Ruhe in der scheinbaren Stille der Weihnachtszeit. Für sie gab es keine Ferien vom Rassismus, keine Pause von den Diskussionen und Vorfällen, die in den letzten Wochen das Institut erschüttert hatten. Die Sehnsucht nach Veränderung loderte in ihnen, drängend und unerbittlich. Sie wussten, dass die Zeit zum Handeln gekommen war. Inmitten ihrer Überlegungen darüber, wie sie im neuen Studienjahr die zahlreichen Probleme am Institut angehen könnten, brachte Franziska damals eine unerwartete Idee ins Spiel: "Wie wäre es mit Neujahrsvorsätzen?" Doch Franziskas Vorschläge waren alles andere als gewöhnlich. Üblicherweise drehen sich Neujahrsvorsätze von Studierenden oft um das häufigere Besuchen von Vorlesungen oder darum, rechtzeitig mit dem Lernen zu beginnen. Doch dieses Mal ging es um Vorsätze, die anti-rassistische und diskriminierende Verhaltensweisen ansprachen. Sie entwarfen Plakate, die mit humorvollen, aber dennoch bedeutungsvollen Neujahrsvorsätzen das Bewusstsein für Rassismus und Diskriminierung am Institut schärfen sollten. Es war ein kleiner Schritt, aber ein wichtiger auf dem Weg zu einer gerechteren Zukunft.

Die Botschaften auf den Plakaten waren klar und deutlich: "Das N-Wort nicht mehr sagen", "Anti-rassistisch Handeln", und "keine rassistischen Theorien lehren." Doch hinter dem scheinbaren Humor lag eine tiefere Botschaft: Es war Zeit für einen Wandel, und auch wenn er zunächst spielerisch und leicht erscheinen mochte, war er doch ein schwerer Weg mit tiefgreifenden Veränderungen. Und so wurden die bunten Plakate zu einem weiteren Ausdruck des Engagements und der Entschlossenheit der Studierenden, das Institut und die Lehrinhalte zu verändern.

Nach den Winterferien, als der frostige Hauch des Neuen Jahres die Luft erfüllte, setzten die Studierenden den letzten Schritt ihrer Idee in die Tat um. Die Plakate, kunstvoll gestaltet und mit Bedacht versehen, wurden strategisch entlang der Korridore und an den Türen einiger Büros des Instituts platziert. Einige fanden sogar den Weg zu den Büros zweier Professor*innen, die bereits in der Vergangenheit durch ihr problematisches Verhalten aufgefallen waren. Die Studierenden, getrieben von der unschuldigen Absicht, schwierige institutionelle Gespräche aufzulockern, machten sich wenig Gedanken darüber, ihre Identität als Urheber*innen zu verschleiern. Sie erwarteten lediglich, dass die beiden Professor*innen die Plakate vielleicht entfernen würden; weitere Reaktionen kamen ihnen nicht in den Sinn. Doch diese Annahme erwies sich bald als naiv.

Besonders während eines Jour Fixe nach den Weihnachtsferien, des monatlichen Treffens von Lehrenden und Studierenden, offenbarten sich die tiefgreifenden und kontroversen Rückmeldungen, die die Plakate ausgelöst hatten. Der Raum war erfüllt von spürbarer Spannung, als einige Anwesende ihre Kritik an der Aktion äußerten. Ein Professor fühlte sich persönlich beleidigt und warf den Studierenden rücksichtsloses Verhalten vor. Eine andere Dozentin stimmte ihm zu und bezeichnete die Aktion ebenso als verletzend. Damals brachte ein weiterer Professor sogar die Möglichkeit einer rechtlichen Klage gegen die Urheber*innen der Plakate ins Spiel. Diese Reaktionen verdeutlichten, dass sich viele Lehrkräfte durch die Plakate beleidigt fühlten, obwohl Rassismus im Institut ein ernstes Problem darstellte. Die Studierenden waren von diesen Reaktionen überrascht und verwirrt. Es schien zu diesem Zeitpunkt, als sei ihre Absicht, einen offeneren Dialog zu fördern, auf unerwarteten Widerstand gestoßen. Die Frage nach dem nächsten Schritt zur Lösung dieser Problematik lag nun schwer in der Luft…

Tina war am Ende ihrer Berichterstattung und sichtlich außer Puste. Sie war eine großartige Interviewpartnerin. Elliot musste kaum Nachfragen stellen, da Tina viel zu erzählen hatte. Den Rest der Sitzung war Elliot beschäftigt, deys Kopfnotizen mittels Stichwörter niederzuschreiben. Diese sollten dem als Gedächtnisstütze dienen. Es waren so viele Informationen, dass dey Angst hatte, Details vergessen zu können. Und so hielt Elliot die Kernelemente der beobachteten Szenen und Interaktionen fest.

Auch wenn mit der Gründung der Arbeitsgruppe ein wichtiger Grundstein für die Zusammenarbeit zwischen Studierenden und Lehrenden gelegt wurde, beeinflusste die damalige Konfrontation während des Jour Fixe auch noch heute die Gemüter. Sie war nicht nur Gesprächsthema bei den Studierenden, sondern auch bei den Professor*innen. In den Gängen der Universität, wo die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte, wie verblichene Graffiti an den Wänden, begegnete Elliot erneut den Lehrenden. Manche Gesichter tragen die Last von Jahrzehnten des Kampfes, der Hoffnung und der Enttäuschung. Die einen, von der Erschöpfung gezeichnet, sehen in den Studierenden nur rebellische Jugendliche, die ihre Autorität infrage stellen. Die anderen, mit einem Hauch von Stolz und Trauer, erinnern sich an die Zeiten, als sie selbst um Anerkennung und Gleichberechtigung kämpften.

Elma, jene Dozentin, deren Gespräch Elliot vor einigen Wochen belauscht hatte, befand sich ebenfalls in der Sitzung der Arbeitsgruppe. In der Pause kamen die beiden ins Gespräch. Sie blickte Elliot mit müden Augen an. “Du weißt nicht, wie es war”, flüsterte sie. “Die Männer haben uns belächelt, als wir nach einem Platz im Hörsaal verlangten. Sie nannten uns hysterisch und unqualifiziert. Aber wir hielten stand.” Ihr Blick schweift zu den Bücherregalen, die mit den Werken von Männern gefüllt sind – die Kanonisierten, die Unsterblichen. “Wir haben für unsere Stimme gekämpft, für unsere Geschichten. Und jetzt? Jetzt werden wir kritisiert, weil wir nicht perfekt sind. Weil wir Fehler machen. Weil wir müde sind.”

Die Erinnerungen an die Kämpfe von gestern sind in den Falten ihrer Stirn eingraviert. Doch es waren nicht nur die Männer, die sie kritisierten. Auch die jungen Studierenden, die von einer anderen Zeit träumen, warfen ihr vor, nicht genug zu tun. “Ihr habt den Weg geebnet”, sagten sie. “Aber wir müssen weitergehen.” Und so stand die Dozentin zwischen den Generationen, zwischen den Geschichten. Elliot hörte zu, versuchte zu verstehen. Die Worte von Elma hallten in Elliots Gedanken wider, als die Dozentin berichtete: “Wir haben für Feminismus, gegen Rassismus und Klassismus gekämpft. Aber jetzt sind wir in einem Topf mit denen, die nie kämpfen mussten. Es ist frustrierend, ohnmächtig zu sein.”

In diesem Moment der Reflexion wurde Elliot bewusst, dass deren Generation den Kampf gegen Rassismus und Klassismus nicht von Grund auf begonnen hatte. Dass viele der Professor*innen Vorarbeit geleistet hatten und dieser Fortschritt anerkannt werden sollte.  Elliot erkannte, dass nachhaltiger Erfolg nur durch einen kollaborativen Prozess zwischen externen Expert*innen, Studierenden und Lehrenden erreicht werden konnte. Denn nur durch Dialog und Zusammenarbeit könnte eine antidiskriminierende kollaborative Anthropologie entstehen. Die Universität atmet Geschichte. Die Worte der Vergangenheit mischten sich mit den Träumen der Zukunft. Und wir, die Student*innen und Beobachter*innen, nahmen all das auf – die Wut, die Hoffnung, die Erschöpfung. Denn hier, zwischen den Büchern und den verblassten Graffiti, lag die Essenz der Anthropologie: das Mensch sein und das Miteinander-Verbunden-sein.

Beobachten, Teilnehmen, Reflektieren: Die Reise der Ethnograph*innen

In den labyrinthartigen Gängen des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie war die Luft  seit jeher erfüllt von den Stimmen, Geschichten und Erinnerungen, die aufeinander prallten und sich vermischten. Die Vorstellung, dass solche Themen hier keine Grundlage hätten, erwies sich als trügerisch. Die Realität, die sich vor den Augen der Studierenden entfaltete, war komplexer, vielschichtiger, und sie ließ sich nicht in einfache Kategorien wie rassistisch und antirassistisch unterteilen. Ebenso wenig konnten die Menschen dieser Geschichten auseinandergerissen werden. So oft war beides miteinander verstrickt, und der allgegenwärtige Schatten des Rassismus war spürbar.

In einem kleinen, überfüllten Seminarraum saßen die Studierenden und lauschten den Erzählungen ihrer Interviewpartner*innen. Sie sahen den Schmerz in den Augen der Erzähler*innen, wenn diese von ihren Erfahrungen berichteten. Sie hörten die leisen, aber eindringlichen Stimmen der Partizipant*innen, die täglich ihr Zuhause verließen, um hier zu lernen, nur um sich oft den Vorurteilen und Unsicherheiten der Anderen stellen zu müssen. Und sie spürten die Schwere der Geschichten, als sie selbst mit Vorurteilen konfrontiert wurden, die wie unsichtbare Ketten um ihre Gedanken und Herzen gelegt wurden.

Die Debatten, die folgten, waren intensiv, manchmal hitzig. Die Worte flogen hin und her wie schwarze Raben, die in einem heftigen Sturm herumgerissen wurden. Aber einfache Antworten gab es nicht. Die Realität war nicht schwarz/weiß. Sie schillerte in allen Farben des Regenbogens, widersprüchlich und doch zusammengehörend. Manchmal sprang sie einer*m auch in allen grellen Neonfarben der Textmarker entgegen, die überall auf den Schreibtischen der Studierenden verteilt lagen. Und manchmal war alles grau und ausgeblasst, schwer zu greifen und noch schwerer zu verstehen.

In dieser Welt voller Widersprüche und paralleler Realitäten entschieden die Ethnograph*innen, weiter zu beobachten, teilzunehmen und zu reflektieren. Sie tauchten tiefer ein in die Welten der Anderen, lernten ihre Sprachen, ihre Bräuche und ihre Träume kennen. Sie hörten zu, ohne zu urteilen, und schrieben ihre Geschichten auf, mit dem Wissen, dass in diesen Geschichten vielleicht die Antwort auf die Frage lag, wie wir als Gesellschaft ohne Rassismus und Diskriminierung zusammenleben könnten.

Und so blieben sie am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, die Notizbücher in der Hand, die Augen und Herzen offen. Sie waren Teilnehmende, Beobachtende und Geschichtenerzähler*innen zugleich. Und sie wussten, dass die Reise noch lange nicht zu Ende war. Jeder Tag brachte neue Erkenntnisse, neue Geschichten und die Hoffnung, dass durch ihr Tun ein kleiner Beitrag zur Veränderung geleistet werden könnte. Die Sonne senkte sich über dem alten Gebäude des Instituts, während die Ethnograph*innen weiterarbeiteten. In ihren Köpfen und Herzen trugen sie die Stimmen derer, die sie interviewt hatten, und das Wissen, dass ihr Weg – so herausfordernd er auch sein mochte – ein notwendiger war. Ihre Reise war noch lange nicht zu Ende. Es war erst der Anfang.

Epilog: Ein paar Gedanken zum Titelbild

Was siehst du auf dem Titelbild dieser Ethnographie? Eine Hand, die von einer Feder wie von einem Messer aufgeschlitzt wird? Oder schreibt sie Kraft ihres Schmerzes? Oder ganz etwas anderes?
Wir (CollAct) waren uns nicht einig. Manchen von uns war das Motiv zu heftig, zu negativ für diesen (hoffen wir zumindest) unterhaltsamen Text. Dann wiederum war die Motivation für diesen Text auch keine Schöne, nämlich diskriminierende Strukturen. 
Die Hand könnte für die Macht stehen, seine eigene Geschichte zu schreiben und Gehör zu finden.
Die Feder: Gehört sie uns, die wir dort hin-schreiben, wo es weh tut? Oder ist es die Feder eines weißen, alten Anthropologen, der uns mittels seiner Macht und Ignoranz ins Fleisch schneidet? Für die einen schwebt die Füllfeder leicht umher, für die anderen ist sie ein Ausdruck epistemischer Gewalt.
Aus dem Schmerz kann eine produktive Energie entspringen. Schreiben ist ein Prozess, der wehtut, aber auch einer, der befreit. Blut wird zu Tinte und die Erfahrungen und Gedanken aus der Hand des Schreibenden fließen und verbreiten sich in der Welt.
Die Farbe: Ist es das Grün einer Tafel, Symbolbild für Frontallehre? Oder geht es um die Symbolik der Farbe Grün als Zeichen für Hoffnung, Gesundheit, Heilung und Fruchtbarkeit?
Wofür stehen die Buchstaben, die die Hand hinabfließen: Vielleicht für Antidiskriminierung? Oder wurden sie einfach zufällig vom Künstler ausgewählt? Die anderen Buchstaben könnten Zeichen für die Vielfalt der Stimmen und Perspektiven sein. Sind die Buchstaben 'E' und 'N' zufällig und unbewusst nebeneinander gelandet, oder sollen sie bewusst 'ethnographic novel' darstellen?"
Diese Auseinandersetzung steht stellvertretend für unseren Prozess: Denn erst in der Auseinandersetzung um unterschiedliche Sichtweisen ergibt sich ein Mosaik der Wahrheit.

Literatur

Augé, Marc. 1995. Non-places: introduction to an anthropology of supermodernity. London/ New York: Verso.

Bourdieu, Pierre. 1999. “Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.“ 11. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Ndlovu-Gatsheni, Sabelo J. 2021. “The Cognitive Empire, Politics of Knowledge and African Intellectual Productions: Reflections on Struggles for Epistemic Freedom and Resurgence of Decolonisation in the Twenty-First Century.” Third World Quarterly 42, no. 5: 882–901